Die leere Krippe
Im Winter 2020 von Waltraud Holzner
Jedes Jahr am Samstag vor dem ersten Adventsonntag fuhr die ganze Familie zum Hilber. Dort, in den Waldungen hinter dem Gehöft, fanden wir Tannenreis, allerlei Zapfen und kugelförmiges Mistelgezweig mit erbsgrünen, ledrigen Blättern und weißen, mattglänzenden Perlen. Nebst diesen adventlichen Schätzen erwarben die Eltern käuflich auch den Kartoffel- und Apfelvorrat für die nächsten Monate, zeitungspapierumwickelte Eier und manchmal auch ein frisch abgemurkstes Huhn oder andere fleischliche Genüsse.
Der schönste Teil des Ausfluges kam für mich aber immer dann, wenn wir vom Hilber eingeladen wurden, uns in der Stube um den zerfurchten Holztisch zu setzen. Die Hilberin brachte dann jedes Mal eine große Pfanne mit butterglänzenden, nach Honig und Zimt duftenden Bratäpfeln und der Bauer holte für die Erwachsenen den selbstgebrannten Schnaps zur Verkostung hervor, wobei er für die vergeistigten Vogelbeeren helle Begeisterung erntete.
Beim Hilber war es ein seltsamer Brauch, schon mit beginnendem Advent auf das breite Fensterbrett eine kleine leere Futterkrippe nebst Maria und Josef zu stellen. Die beiden Figuren waren zwar unbeholfen und plump geschnitzt, trotzdem verkörperten sie sichtbar Innigkeit und übten eine große Anziehungskraft aus, denn ich kann mich heute noch genau an sie erinnern. Die Gruppe war liebevoll auf einem bestickten Tüchlein angeordnet und von vier Kerzen und Tannenschmuck umgeben. Es war klar, dieses Arrangement sollte den fehlenden Adventkranz ersetzen. Aber warum jetzt schon die Krippe?
„Bei uns steht die Krippe immer erst am Heiligen Abend unter dem Christbaum”, wunderte ich mich ein wenig vorlaut.
Ja, das wäre auch richtig so, meinte der Hilber und lächelte, aber er habe einen guten Grund für sein sonderliches Brauchtum. Ich wusste, gleich würde der Alte erzählen, denn er redete nicht ungern. Aber er bestand darauf, dass seine Frau, die Mena, neben ihm Platz nahm, holte ein paar Züge aus seiner Pfeife, und dann erst begann er mit seiner Geschichte.
„Ja, ihr müsst wissen, meine Mutter, Gott hab sie selig, stammte aus einer kinderreichen Bauernfamilie. Schon mit vierzehn Jahren wurde sie zu den Klosterschwestern geschickt, um sich als Dienstmagd ihr Brot zu verdienen und weil man hoffte, sie würde von den Nonnen Nützliches wie Kochen, Nähen und Haushaltsführung erlernen. Und ich muss sagen, aus meiner Mutter wurde wirklich eine hervorragende Köchin. So wurde sie von den Klosterfrauen einer Gräfin empfohlen, deren Familie sie einige Jahre bekochte, bis sie meinen Vater kennenlernte und heiratete.
Obwohl die Mutter nicht Geld und Gut, sondern nur eine bescheidene Aussteuer in die Ehe mitbrachte, war mein Vater stolz auf seine hübsche, tüchtige Frau und verwehrte ihr auch nicht den Wunsch, einen älteren Verwandten, den Vetter Josl, als Knecht einzustellen. Der Josl hatte eine schiefe Schulter, obendrein einen Sprachfehler und die Bauern zogen daraus den falschen Schluss, er wäre geistig zurückgeblieben und kein tüchtiger Arbeiter. Er war daher sehr dankbar, dass meine Eltern ihn aufnahmen und war in all den Jahren fleißig, treu und zuverlässig.”
Die Hilberin stand auf, kramte in der Kredenzschublade und fand bald ein altes Foto, auf dem der bucklige Vetter Josl zu sehen war. „Die Schwiegereltern haben viel von ihm gesprochen. Ein hässlicher Mensch soll er gewesen sein, aber ein zufriedener und ein bescheidener”, erklärte sie, während sie das unvorteilhafte Bild zur Ansicht herumreichte.
„Ja, ja”, wiederholte der Hilber, „mit allem zufrieden!” Dann erzählte er weiter: „Bei den Bauern wurden die Feste früher ganz im christlichen Sinn gefeiert. Vor der Mette wurden daheim die Kerzen eines Christbäumchens angezündet und an der Krippe Weihnachtslieder gesungen. Bis neun Uhr durften wir auch Lebkuchen und Bäckerei essen, nachher nicht mehr, weil man drei Stunden nüchtern sein musste, um die heilige Kommunion empfangen zu dürfen. Der nächtliche Gang zur Kirche und die feierliche Christmette waren Höhepunkt der Weihnacht. Geschenke waren kaum üblich.
Meine Mutter hatte aber im gräflichen Haushalt den Brauch des weihnachtlichen Schenkens kennengelernt und diese Sitte in maßvollem Rahmen in ihrer Familie eingeführt, indem sie jedem von uns einen geheimen Herzenswunsch erfüllte, den sie listig und über mancherlei Umwege in Erfahrung gebracht hatte. In der Adventzeit fuhr sie in die Stadt, besuchte die frommen Nonnen und die Frau Gräfin und kaufte dann für jeden von uns ein Geschenk. Josl, der alte Knecht, war jedes Jahr wunschlos glücklich und deshalb wurde er meist mit Wäsche, Seife oder Rauchtabak bedacht. Der Vetter Josl, so wurde er von allen gerufen, mochte uns Kinder sehr. Er beobachtete aus der Ferne unsere Spiele und hielt Gefahren, die es ja auf einem Bauernhof bei all dem Getier und Gerät gibt, von uns fern. Er konnte aus Holz einfaches, aber lustiges Spielzeug basteln, wie Trillerpfeifen und Kreiseln und eines Sonntags beobachtete der Vater, wie der Josl mit seinem Taschenmesser einen Hasen für meinen kleinen Bruder schnitzte. Als er ihn daraufhin ansprach und sein Werk lobte, meinte der Knecht, er würde für sein Leben gern einmal probieren, Krippenfiguren zu schnitzen.
So kam es, dass der Josl die nächste Weihnacht mit einem Schnitzwerkzeug überrascht wurde. Ich war damals noch ein kleiner Bub, aber ich kann mich heute noch an die Freude des alten Knechtes erinnern.”
Der Hilber-Bauer machte wieder ein paar Züge aus seiner Pfeife und stärkte sich mit einem Schlückchen Vogelbeere, bevor er mit seiner Geschichte fortfuhr.