Der Stieglitz
Im Frühling 2021 von Der Stieglitz
Wenn Stieglitz über Untermais fliegt, fällt ihm jedesmal ein großes Haus ins Auge, das ziemlich verlassen und ohne Leben wirkt. Bei näherem Hinsehen wird klar, dass darin jene Menschen wohnen, denen seit bald 14 Monaten die Lebensfreude abhandengekommen ist. Nicht, weil sie das so für sich entschieden haben, nein, das wurde von höherer Stelle so verordnet. Zuerst war es das Virus, dessen Namen man schon nicht mehr aussprechen mag, das sie in ihre Zimmer verbannte. Doch dann, im Sommer, als draußen alle sich des sommerlichen Lebens und Treibens erfreuten, wurden die drückenden Fesseln in diesem Haus immer noch nicht gelockert. Diese Menschen, von denen einige sogar den Krieg erlebt haben, zweifeln daran, in der ihnen verbleibenden Lebenszeit jemals wieder Freiheit erleben zu dürfen. Sie haben resigniert, sind in Verzweiflung oder sogar in gnädiges Vergessen abgedriftet. Die Gesichter der meisten ihrer Lieben kennen sie nur noch von Fotos, deren Stimmen im besten Falle aus dem Telefonhörer. Liebevolle Berührungen von Angehörigen gibt es nur mehr in ihren Träumen.
Stieglitz empfindet Mitgefühl und Trauer, aber auch Wut. Mitgefühl mit den betagten Menschen, Trauer um deren verlorene Lebenszeit und -qualität und heftige Wut auf all jene, die nicht alles Mögliche daransetzen, diesem Haus wieder Leben einzuhauchen.