Sepp Innerhofer - ein Kämpfer für Südtirol
Im Winter 2017 von Eva Pföstl
Im Juni 1961, zum Herz-Jesu-Fest, wurden in ganz Südtirol über 40 Strommasten – Symbole der Industrialisierung des Landes für italienische Zuwanderer – in die Luft gesprengt. Mit Anschlägen, zu denen sich der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) bekannte, sollte die Weltöffentlichkeit auf die Unterdrückung der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol aufmerksam gemacht werden. Sepp Innerhofer aus Schenna, Jahrgang 1928, war von Anfang an mit dabei. Drei Jahre saß er in Haft, wurde gefoltert und 35 Jahre lang wurden ihm die Bürgerrechte aberkannt. Heute hält Innerhofer regelmäßig Vorträge in Schulen über die geschichtlichen und politischen Hintergründe rund um den Existenzkampf der Südtiroler .
Meraner Stadtanzeiger (MS): Herr Innerhofer, Ihre Kindheit und Jugend wurden vom Existenzkampf der Südtiroler gegen das faschistische Regime geprägt, welches mit allen Mitteln aus den eroberten Gebieten südlich des Brenners ein rein italienisches Gebiet – das Alto Adige – machen wollte.
Sepp Innerhofer: Es war damals ein alltäglicher Kampf, den jeder Einzelne sowie die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerungsgruppe bestehen musste. Das Leben war ein ständiges Sich-Behaupten gegen faschistische Übergriffe. Die fremden und unerwünschten Machthaber versuchten, unsere Heimat zu italianisieren und uns Südtiroler zu zwingen, etwas anderes zu sein, als wir waren. Man wollte uns ganz einfach in Italiener verwandeln. So begann man mit der Abschaffung der geschichtlich gewachsenen Ortsbezeichnungen, der Name „Tirol” wurde verboten. Es folgte die Abschaffung der deutschen Schulen, die Tiroler Lehrer wurden zwangspensioniert oder in die welschen Provinzen versetzt und bei Weigerung drohte ihnen das Berufsverbot. Deutsche Taufnamen und vieles andere mehr wurden nicht mehr zugelassen. Ich habe von 1934 bis 1940 nur die italienische Volksschule besucht und meine Generation konnte weder Deutsch lesen noch schreiben. Aus diesem Zwang heraus entstanden dann die sogenannten „Katakombenschulen”, ein Geheimschulnetz, in denen uns Kindern das Lesen und Schreiben der deutschen Sprache gelehrt wurde. Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere „geheimen” Zusammenkünfte, die nachts auch in Kellern oder Scheunen der Bauernhöfe stattfanden. Mutige Lehrpersonen erteilten uns Unterricht. Ihnen drohten Haft- und Geldstrafen und sogar die Verbannung nach Süditalien. Wir Kinder konnten jedoch auf diese Weise weiterhin unsere Sprache und Schrift erlernen, wenn auch mehr schlecht als recht. 1940 bis 1943 wurde ich mit vielen anderen jungen Südtirolern nach Rufach im Elsaß auf die „Reichsschule für Volksdeutsche “ geschickt. Es handelte sich um eine harte Zeit meiner Jugend, denn ich war gerade erst zwölf Jahre alt und musste meine Familie verlassen. Diese Rufacher-Jahre haben jedoch zweifellos eine Schicksalsgemeinschaft gebildet, die eine bis heute über alle sozialen Barrieren wirkende Solidarität hervorbrachte.
MS: 1939 kam es zum Abkommen zwischen Hitler und Mussolini, das dem Südtirolproblem ein Ende setzen sollte. „Giahn oder bleibm?” – Vor diese schicksalshafte Entscheidung wurden die Südtiroler gestellt. Was damals geschah, was damals in den Herzen der Menschen vorging, wie groß der innere Zwist und die Zweifel waren, ist heute schwer nachvollziehbar. Wie haben Sie diese Zeit der Option erlebt?
Sepp Innerhofer: Es war eine Zeit des Schreckens und der Feindschaften. Die Südtiroler waren zu Spielfiguren geworden auf einem Schachbrett, welches Hitler-Mussolini-Pakt hieß. Auch unsere Familie musste sich entscheiden, entweder ins Deutsche Reich auszuwandern oder in Südtirol zu bleiben unter der Gefahr, völlig italianisiert zu werden. Auf der einen Seite standen jene, welche die Abwanderung ins Deutsche Reich als Erlösung aus der Unterdrückung des italienischen Regimes propagierten. Führend war der VKS, der Völkische Kampfring Südtirol. Die Parole lautete: „Heim ins Reich”. Auf der anderen Seite standen die Dableiber, die den Versprechungen eines gemeinsamen Siedlungsgebietes nicht glauben wollten. Diejenigen also, die ihre Besitztümer nicht aufgeben wollten. Diejenigen, die den Schritt in eine ungewisse Zukunft in der Fremde nicht machen wollten. In den letzten Wochen vor Jahresende 1939 wurden in vielen Dörfern Versammlungen der Dableiber und der Weggeher abgehalten. Ich erinnere mich an ein Zusammentreffen meines Vaters mit seinen Brüdern, den sechs „Tanner-Geschwistern” (siehe Foto), verbunden mit heftigen Diskussionen. Vier Brüder entschieden sich für die Option nach Deutschland, zwei Brüder beschlossen, in Südtirol zu bleiben. Ein tiefer Graben riss sich durch unsere Familie. Die Brüder meines Vaters standen sich fassungslos gegenüber. Sogar meine Eltern waren sich uneinig: meine Mutter plädierte fürs Dableiben, mein Vater hingegen fürs „Giahn”. Mein Vater behauptete später immer wieder: „Die Zeit der Option war schlimmer als der 2. Weltkrieg”. Die leidvollen Erfahrungen der Optionszeit haben meine Familie und die Südtiroler Gesellschaft insgesamt nachhaltig geprägt.
MS: Nach 1945 kam Südtirol in die Mühlen des Kalten Krieges, es gab keine Rückkehr nach Österreich, dafür eine Autonomie, die sich als Scheinautonomie erwies. Wie war die Stimmung in Südtirol?
Sepp Innerhofer: 1946 hatten die Alliierten die Rückkehr Südtirols zu Österreich definitiv abgelehnt. Als eine Art Ersatzlösung hatten der österreichische Außenminister Karl Gruber und sein italienischer Kollege und Ministerpräsident Alcide de Gasperi am 5. September 1946 den „Pariser Vertrag” geschlossen. Dieser Vertrag sollte den Südtirolern die Autonomie bringen. Im Sommer 1947 wurde die Region Trentino-Alto Adige errichtet, in der jedoch die Italiener in der Mehrheit waren und in den folgenden Jahren eine Politik betrieben, die den Faschisten zur Ehre gereicht hätte. Dies führte bei uns Südtirolern schnell zu Zweifeln an der Aufrichtigkeit der italienischen „Autonomie-Politik”. Wir hatten immer mehr das Gefühl, uns gegen die italienische Politik wehren zu müssen.
MS: Mit welchen Aktionen setzte man sich konkret gegen die italienische Politik zur Wehr?
Sepp Innerhofer: So wie bisher konnte es jedenfalls nicht weitergehen. Es blieb uns nur der Ausweg übrig, auf andere Weise zu versuchen, unsere Rechte zu erkämpfen. Wir waren alles rechtschaffene Leute ohne Vorstrafen. Viele waren verheiratet, hatten Kinder, aber wollten nicht tatenlos zusehen, wie eine Volksgruppe systematisch diskriminiert wird. Wir wollten unseren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Bereits 1945-46 organisierte die SVP eine Unterschriftensammlung zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes mit. Als am Ostermontag 1946 Leopold Figl 160.000 Unterschriften der Südtiroler überreicht bekam, war es, als ob er damit das Schicksal unseres Landes in die Hand nehmen könnte. Wir glaubten damals fest an die Rückkehr zum Vaterland Österreich. Im Juni 1946 folgte die große Herz-Jesu-Prozession von Bozen nach Gries, ein weiteres Bekenntnis zu Tirol, an der ich teilnahm. Im November 1957 folgte die Kundgebung auf Schloss Sigmundskron.
MS: Die Kundgebung auf Schloss Sigmundskron war die größte politische Massenbewegung, die es je im Lande gegeben hat. Was war der Anlass?
Sepp Innerhofer: Unmittelbare Ursache des Protests in Sigmundskron war ein römisches Mammutprogramm für den Volkswohnbau: Die italienische Regierung hatte 2,5 Mrd. Lire veranschlagt, um in Bozen 5.000 Wohnungen zu errichten. Dabei war der soziale Wohnbau nur eine von vielen Maßnahmen, welche die Zuwanderung italienischsprachiger Bevölkerungsteile aus den restlichen Provinzen förderte und somit Ängste in der Südtiroler Bevölkerung schürte. Viele Südtiroler bedrückte die Situation in unserer Heimat. Vor allem die Abwanderung der Jugend, die weder beim italienischen Staat noch in den italienischen Industriebetrieben Arbeit fand, haben wir als katastrophal empfunden: Wir sind immer weniger geworden und die anderen immer mehr, und es musste etwas geschehen.
MS: Wie verlief die Kundgebung auf Schloss Sigmundskron?
Sepp Innerhofer: Der italienische Regierungskommissar der Region verbot die Kundgebung in Bozen mit der Begründung, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung wäre nicht gegeben. Der Südtiroler Volkspartei, SVP, wurde allerdings zugestanden, die Veranstaltung auf Schloss Sigmundskron durchzuführen, nachdem der SVP-Vorsitzende Silvius Magnago sein „deutsches Ehrenwort“ gegeben hatte, dass die Demonstration von Sigmundskron ordnungsgemäß verlaufen würde. Die Bürger kamen in Massen – ungefähr 35.000 Südtiroler, die die Allmacht und Arroganz der fernen römischen Staatsmacht nicht länger stumm tolerieren wollten. Mehr noch, mit ihrem öffentlichen Protest wollten sie auch die internationale Gemeinschaft auf das ihnen zugefügte historische Unrecht und ihre unerfüllten Autonomieforderungen aufmerksam machen. Den Ordnungsdienst auf dem Gelände hatte die Freiwillige Feuerwehr übernommen. 5.000 Carabinieri standen außerhalb in Bereitschaft. Die Demonstration verlief friedlich, der „Marsch auf Bozen“ blieb aus. Zurückblickend lässt sich heute sagen: Sigmundskron hatte für Südtirol eine ganz besondere Bedeutung. Es war ein zentrales Ereignis in der Nachkriegsgeschichte unseres Landes.
MS: 1959 – ein Schicksalsjahr?
Sepp Innerhofer: 1959 stand als Tiroler Gedenkjahr im Zeichen der Erinnerung an die Freiheitskämpfe von 1809. Im ganzen Land fanden mit breiter Teilnahme die „Andreas-Hofer-Spiele” statt. Ich stand in Meran auf der Bühne. Das Volksschauspiel stand ganz im Zeichen der brennenden Südtirol-Frage: Ein „stillschweigender Volksaufstand”. Wir haben damals Andreas Hofer nicht nur gespielt, sondern gelebt! In diesem Sinn begann der „Befreiungsausschuss Südtirol“ auch mit der Vorbereitung der Anschläge. Mit dem BAS-Grundsatz, keine Menschenleben zu gefährden, fanden die ersten Sprengstoffanschläge statt, mit dem Ziel, dem italienischen Staat materiellen Schaden zuzufügen. Seinen Höhepunkt fand der Widerstand in der uns allen bekannten Feuernacht am 12. Juni 1961. Unser Grundsatz lautete: „Gewalt gegen Objekte ja, gegen Menschen nein.“ Die Anschläge lenkten weit über die Grenzen Aufmerksamkeit auf unser politisches Schicksal.