Die jüdische Gemeinschaft in Meran
„Wer die Geschichte vergisst, läuft Gefahr, sie wieder zu erleben“
Im Sommer 2022 von Veronika Rieder
Wie entstand die jüdische Gemeinschaft Merans? Wie lebt sie heute, ist jüdisches Leben nach religiösen Vorschriften hier möglich? Solche und andere Fragen beschäftigten mich seit meinem Besuch im Museum. Ich begebe mich auf die Spuren jüdischen Lebens und versuche eine
Bestandsaufnahme.
Im historischen Tirol lassen sich Juden seit dem 13. Jh. nachweisen. Laut damaligen Bestimmungen durften sich höchstens 3 bis 4 Familien an einem Ort aufhalten. Da die meisten Berufe, das Studium und Haus- und Grundbesitz verboten waren, waren der Handel, das Hausierertum und der Geldverleih nahezu die einzigen Bereiche, in denen sie tätig sein konnten; später kam die Industrie hinzu. Im 19. Jh. begannen städtische jüdische Gemeinden, sich zu assimilieren. Das Staatsgrundgesetz 1867 beseitigte in der österreichisch-ungarischen Monarchie sämtliche Beschränkungen, d.h. sie ermöglichte ungehinderten Aufenthalt, freie Religionsausübung, Zugang zu allen Schulen und Berufen, Haus- und Grundbesitz.
Die Volkszählung 1900 ergab für Tirol 0,1 % jüdische Bevölkerung, also ca. 850 Personen. Die meisten Juden im heutigen Südtirol lebten in Meran, während der Saison kamen sehr viele Gäste mosaischen Glaubens. Die Bankkaufleute Jakob und Daniel Biedermann hatten sich schon 1830 angesiedelt. Ab ca. 1870 stieg die Zuwanderung, besonders in Hotellerie, Gastronomie und Handwerk; Rechtsanwälte und Ärzte ließen sich nieder. Der beliebte Arzt Raphael Hausmann, ein guter Freund Franz Tappeiners, war die treibende Kraft hinter der Königswarter Stiftung, auf deren Grund neben dem „Asyl für mittellose kranke Israeliten“ die erste jüdische Synagoge Tirols erbaut und 1901 eingeweiht wurde. An einer eigenständigen jüdischen Gemeinde Meran war aber das zuständige Wiener Ministerium nicht interessiert. Bekannt war die Familie Bermann, welche die Hotels Starkenhof und später Bellaria (heute teils Sitz der Bezirksgemeinschaft) mit einem großen Betsaal führte. Mehrere Hotels und Pensionen in Meran boten koscheres Essen an. Der wachsende jüdische Tourismus verband Meran mit der jüdischen Kulturwelt Wiens und Mitteleuropas und lieferte wichtige geistige Impulse. Stellvertretend seien Chaim Weitzmann und Moritz Lazarus genannt. Die jüdische Familie Schwarz führte am Pfarrplatz eine Biergaststätte und gehörte zu den bedeutendsten Geldgebern für den Eisenbahnbau Bozen-Meran (1881 eröffnet). Dieser Einsatz für die Allgemeinheit hinderte aber Zeitungen wie „Burggräfler“ und „Tiroler Volksblatt“ nicht an ihren antisemitischen Ausfällen.
Nach der Abtrennung Südtirols wurde 1921 eine eigene jüdische Kultusgemeinde Meran errichtet. Wegen der nationalsozialistischen Verfolgungen flohen viele deutsche und österreichische Juden nach Südtirol, sodass die jüdische Gemeinschaft Merans ca. 1.500 Mitglieder zählte. Die italienischen Rassengesetze 1938 setzten dem trügerischen Frieden ein Ende: Juden ohne italienische Staatsbürgerschaft mussten das Land verlassen, alle Juden wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Viele tauchten unter oder flohen. Mit Hilfe einheimischer Parteigänger wurden 1943 in Meran 25 Juden verhaftet und zunächst ins KZ Reichenau gebracht. Die Stolpersteine, die Tafeln auf dem Friedhof und im Innenhof des Gewerkschaftshauses erinnern daran. Nur wenige überlebten und kehrten zurück. 1945-47 war Meran eine wichtige Durchgangsstation für Juden auf dem Weg nach Palästina.
Heute gehört die jüdische Gemeinde Merans mit ca. 50 Mitgliedern zu den Kleinstgemeinden, leider ohne jüdische Schule und ohne Rabbiner. Freitagabend kommt öfters ein Vorbeter aus Bozen. Für einen Gottesdienst braucht es mindestens 10 Männer, egal wie viele Frauen auf der Empore anwesend sind. Dank Internet kann aber eine religiöse und die damit verbundene sprachliche Unterweisung in Iwrit (Neuhebräisch) erfolgen. Auch das Gebetbuch (Siddur) kann im Internet eingesehen werden; es hilft u.a. dabei, jüdische Feste im Kreis der Familie oder mit Freunden vorschriftsmäßig zu feiern. Ist das aber nicht schwierig, weil der „Schabbat“ auf den Samstag fällt? Nein, erklärt Herr Innerhofer: Die italienische Gesetzgebung sieht für Juden in Schule und öffentlichem Dienst den freien Samstag vor. Privatangestellte tun sich u.U. schwerer. Allgemein fühlen sich aber unsere jüdischen Mitbürger/-innen in Meran gut integriert, versichert Herr Innerhofer.
Wie die Synagogenregelung zeigt, spielt Tradition eine wichtige Rolle. So müssen etwa die Thorarollen handgeschrieben werden, gedruckte sind nicht koscher. Überlieferungen werden in der Familie weitergegeben. Ob jemand Jude ist oder nicht, entscheidet die mütterliche Abstammung. Konvertierungen sind schwierig, das Judentum missioniert auch nicht. Zu den Traditionen, die einigen Aufwand erfordern, gehören die Vorschriften für das koschere Essen. Herr Innerhofer erklärt mir jedoch, dass es eine eigene Kennzeichnung für koschere Produkte gibt; solche findet man in großen Supermärkten. Bei Obst und Gemüse ist es unkompliziert, koscheres Fleisch zu bekommen ist wegen der Schächtung schwieriger, da auch Messer, Wetzsteine usw. koscher sein müssen. Deshalb fährt Herr Innerhofer ab und zu nach München oder Mailand zu einem Großeinkauf. Inzwischen bieten immer mehr Südtiroler Firmen koschere Produkte an, um jüdische Kunden zu halten bzw. zu gewinnen. Ein Rabbiner begutachtet und überprüft regelmäßig die vorschriftsmäßige Herstellung.