Wer teilt, wird selbst reicher
Im Frühling 2022 von Dr. Luis Fuchs
Die Hilfsbereitschaft für die Menschen aus der Ukraine habe den Begriff „Solidarität“ wieder mit Leben erfüllt, vermerkte unlängst die Tiroler Tageszeitung. Sämtliche EU-Staaten beschlossen binnen weniger Tage einheitliche Richtlinien für den Umgang mit den vom Krieg Vertriebenen. Der Begriff „Solidarität“ steht für „Zusammengehörigkeitsgefühl“ und „gegenseitige Hilfsbereitschaft“. Der Grundsatz solidarischen Handelns lautet also: Alle für einen und einer für alle. Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli findet hierzu eine überzeugende Definition: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.“ Dieser Auslegung entsprechend hat sich kürzlich das spanische Dorf Fuentes de Andalucia für die Dauer der Karwoche in „Ucrania“ umbenannt. Der neue Name stand auf einem Schild am Ortseingang und war mit den Nationalfarben Blau und Gelb hervorgehoben.
Solidarität hat gerade in Krisenzeiten Konjunktur. Von unserer Überfülle etwas mit notleidenden Flüchtlingen zu teilen, ist gelebte Solidarität. Die beeindruckend großzügigen Spenden für die Ukraine, die bisher bei der Caritas, beim Weißen Kreuz und bei anderen Hilfsorganisationen eingegangen sind, zeugen von großer Hilfsbereitschaft der Südtiroler.
In dem Moment, in dem wir teilen, gewinne das Geteilte doppelt an Wert, versichert uns die Dichterin Lilli Kreßner. Mit dem Wort „teilen“ hat es in bestimmten Fällen eine besondere Bewandtnis. „Geteilte Freude ist doppelte Freude“, sagen wir gerne, und „geteiltes Leid ist halbes Leid“. Dereinst sagte man von einem Liebespaar ganz sachlich: „Sie teilen Tisch und Bett.“ Wenn mein Freund meine Meinung teilt, dann sind wir uns einig. Sollten wir jedoch „geteilter Meinung sein“, dann sind wir uns nicht mehr einig. Früher haben wir Bilder per Post an unsere Lieben verschickt. Seit Beginn des Zeitalters der sozialen Medien „teilen“ wir Fotos online in geradezu Echtzeit mit Familienangehörigen und Freunden. Allein über WhatsApp werden Millionen Fotos pro Tag verschickt.
„Teilen“ wurde nicht immer nur in positivem Sinne verstanden. In der Geschichtsschreibung wird über Machthaber berichtet, die ihre Politik am Grundsatz „Divide et impera“ ausrichteten, was übersetzt „Teile und herrsche“ entspricht. Dieser Leitsatz empfiehlt den Regenten, eine zu beherrschende Gruppe, z.B. ein Volk, in Untergruppen mit einander widerstrebenden Interessen aufzuspalten. Zugeschrieben wird die Wendung dem König Ludwig XI. sowie auch Niccolò Machiavelli, der im Buch „Der Fürst“ dem Fürsten erklärt, wie er seine Herrschaft ausüben sollte. Mit Bezug auf die Anweisung „Teile und herrsche“ wurde in neuerer Zeit auf die Strategie des amerikanischen Präsidenten hingewiesen; dieser habe selten das Einende, sondern fast immer das Trennende betont.