Die Edelkastanie
Castanea sativa Mill.
Im Herbst 2015 von Dr. Wilhelm Mair
Ein mächtiger Edelkastanienbaum ist von seltener Schönheit: der drehwüchsige Stamm, die weit ausladende Krone mit den knorrig verzweigten Ästen, das Blütenmeer der langen, gelblichen Blütenrispen, die großen, dunkelgrünen, im Herbst golden leuchtenden Blätter und schließlich die „Keschtnigl“ mit ihrem „köstlichen“ Inhalt.
Wir begegnen diesem unverkennbaren Baum in den wintermilden Lagen Südtirols bis etwa 1.300 m. Er bevorzugt durchwegs kalkfreie Böden und gedeiht in den Mittelgebirgsterrassen im Burggrafenamt, um Bozen, im Überetsch und Unterland, im Passeiertal, im unteren Vinschgau und im Eisacktal, wo im Schlosshof von Wolfsthurn/Mareit der nördlichste Edelkastanienbaum Südtirols steht. Er ist ein Charakterbaum der bäuerlichen Kulturlandschaft und viele majestätische Kastanienbäume sind als Naturdenkmal ausgewiesen und geschützt. Auf „Kastanien-Erlebniswegen“ in Völlan, in Partschins (Vertigner Kastanienrunde) und im Eisacktal (Kestnweg, beginnend beim Kloster Neustift bei Brixen über Feldthurns, Barbian, Ritten bis zur Burg Runkelstein im Bozner Talkessel) erfährt der interessierte Wanderer viel Wissenswertes über die Edelkastanie.
Die Edelkastanie, auch Esskastanie, stammt ursprünglich aus Kleinasien am Schwarzen Meer und wurde schon früh als Holz- und Fruchtbaum kultiviert. Welchen Verbreitungsweg der wärmeliebende Baum genommen hat, ist nur mehr schwer nachzuvollziehen; die Römer fanden ihn in den eroberten Gebieten bereits vor und förderten die Verbreitung. Im Mittelalter erlebte ihr Anbau in Klöstern und Adelsansitzen einen Aufschwung, immer in enger Verbindung mit dem Weinbau. Eine bedeutende Nutzungsart war schon seit alters die Gewinnung des witterungsbeständigen Holzes für die Gerüste im Weinberg, bei uns die „Pergl“. Die Früchte aus veredelten Bäumen waren in getrocknetem, gemahlenem, geröstetem oder gekochtem Zustand in Notzeiten ein Grundnahrungsmittel der bäuerlichen Bevölkerung. Vom Brot der armen Leute wurden sie zur Herbstdelikatesse. Das Hauptverbreitungsgebiet in Europa erstreckt sich heute von Anbaugebieten rings um das Mittelmeer über die Schweiz, Italien, Österreich, die Weingebiete Deutschlands und den Balkan bis zum Kaukasus.
Der Name Castanea / Kastanie rührt vermutlich vom persischen Wort „kashtah“ her, was soviel wie „trockene Frucht“ bedeutet. Bei uns fand der Kastanienbaum auch Verwendung für Flurnamen (Kestenholz in Oberplars und Häusergruppe beim Cafè Konrad, Kestenberg in Algund-Dorf, Kestenwiesl, Kestenbergl, Kestberg in Marling, Kestlzuen in Labers, Kestenholz in Staben-Naturns und Dorf Tirol, Kestengröben, Kestenbrücke, Kestbamwaal in Tscherms, Thurner Kestbam, Wirts-Kestbam, Lothen-Kestbam, Prunjauner Kestbam, Himmelstützer in Schenna, Tschivon und Verdins) und Hofbezeichnungen (Kestenholzer in Niederlana, Kestenholz in Rateis/Völlan, Kestbamer in Gratsch, Kestenholzer in Sirmian, Kestholzer in St. Georgen/Schenna, Kesttaler in Tschivon/Schenna, Kestenbrugger in Dorf Tirol, Kestenholzberger in Prissian, Köstenwaldele in Oberplars) (Johannes Ortner).
Innig mit der Kastanie verbunden ist bei uns das „Törggelen“. Der ursprünglich Eisacktaler Brauch der Weinbauern, im November von einem „Buschen“ zum nächsten zu pilgern, um den neuen Wein zu verkosten und dazu gebratene „Kest´n“ zu essen, hat sich mittlerweile (leider) auf das ganze Land ausgedehnt. Heute werden im Herbst nach einer deftigen Mahlzeit die gebratenen Kastanien und süßen Krapfen gereicht. Der Duft der gebratenen Kastanien begleitet uns den ganzen Herbst und die Kastanienbrater sind von den Weihnachtsmärkten nicht mehr wegzudenken.
Der wie die Eiche und Buche zur Familie der Buchengewächse (Fagaceae) gehörende sommergrüne Baum kann eine Höhe von etwa 20 m erreichen. Der mächtige, meist stark drehwüchsige Stamm (meist linksdrehend) trägt eine tief längsrissige, furchige Netzborke und eine breit ausladende Krone. Die länglich-lanzettlichen, ledrigen, glänzend dunkelgrünen und gezähnten Blätter verfärben sich im Herbst gelb bis gelbbraun. In bis 20 cm langen, ährenförmigen Blütenständen stehen zwischen vielen männlichen die unscheinbaren weiblichen Blüten. Ihr eher unangenehmer Duft erinnert an den Weißdorn oder die Eberesche. Im Herbst liegen im Innern von stacheligen Hüllen zwei bis drei schmackhafte Früchte (Nüsse) mit glänzender brauner Schale.