Wird das Vergessen in Meran vergessen?
Im Winter 2024 von Eva Pföstl
Es scheint so ziemlich das Schlimmste zu sein, was einem betagten Menschen passieren kann: Demenz. Die Angst vor dem Vergessen greift um sich. Allein in Südtirol sind zurzeit 9.000 Personen betroffen, mit etwa 1.000 Neuerkrankungen im Jahr muss derzeit gerechnet werden. In Meran leiden 600 Menschen an Demenz. Tendenz steigend. Und konkret fehlen in der Stadt Meran im Pflege- und Betreuungsbereich 35 bis 40 Sonderbetreuungsbetten für Menschen mit Demenz, um den Südtiroler Landesstandard zu erreichen. Wird das Vergessen vergessen? Wir haben den ehemaligen Primar der Geriatrie des Krankenhauses Meran und Gründer der Memory Klinik, Christian Wenter, zu einem Gespräch getroffen.
Man lässt den Haustürschlüssel in der Wohnung liegen und der Name des Nachbarn fällt einem partout nicht mehr ein. Ist das noch Vergesslichkeit oder schon Demenz? „Natürlich ist nicht jeder, der mal etwas verschusselt, gleich dement. Aber es gibt eindeutige Warnsignale“, erklärt Christian Wenter. Falls das Kurzzeitgedächtnis auffallend leide, also relativ frisch zurückliegende Ereignisse nicht erinnert würden, und falls ein und dieselbe Geschichte immer wieder erzählt und ein und dieselbe Frage immer wieder gestellt werde, sollte man sich ärztlichen Rat suchen. „Wird dieses Verhalten schlimmer, dann kann es sich um Demenz handeln“, sagt der renommierte Experte. Es ist ratsam, sich zunächst an die Hausärztin oder den Hausarzt zu wenden. Diese/dieser kann den Betroffenen an die Memory Clinic im Krankenhaus Tappeiner überweisen. Dort klärt ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Geriatern und Neurologen, Neuropsychologen, Ergotherapeuten, Krankenpflegern und Sozialassistenten, den Zustand des Patienten ab.
Zwischen 65 und 85 Jahren steigt die Anzahl der Betroffenen kontinuierlich
Mehr als 50 Formen von Demenz gebe es, von denen Alzheimer, woran mehr als die Hälfte der Erkrankten leiden, die häufigste und bekannteste sei. Derzeit leiden etwa 9.000 Südtirolerinnen und Südtiroler an einer Demenz, mit etwa 1.000 Neuerkrankungen im Jahr muss gerechnet werden. Vor dem 60. Lebensjahr sind nur sehr wenige Prozent der Bevölkerung von Alzheimer oder anderen Demenz-Erkrankungen betroffen; Jüngere brauchen also kaum Angst vor Alzheimer zu haben. Zwischen 65 und 85 Jahren allerdings steigt die Anzahl der Betroffenen kontinuierlich auf bis zu 25 und mehr Prozent an, dann flacht die Kurve etwas ab. Wer fit das hohe Alter erreicht, hat die Chance, bis 100 und darüber nicht an Alzheimer zu erkranken.
Demenz-Fälle könnten sich verdreifachen
Für 2034 prognostiziert das ASTAT 150.000 Seniorinnen und Senioren in Südtirol. Trotz der weltweiten Dimensionen der Krankheit – man rechnet mit etwa 50 Millionen Erkrankten, Tendenz steigend – befindet sich die Forschung seit Jahrzehnten in einer therapeutischen Sackgasse. „Die Medizin hat es geschafft, Ursachen und Krankheitsentwicklung besser zu verstehen und schneller Diagnosen zu stellen“, erklärt der ehemalige Primar, „doch die Krankheit zu heilen, wird aber in absehbarer Zeit nicht möglich sein.“
Heilbar ist Demenz bis heute nicht
„Wir warten seit Jahren auf einen Durchbruch in der Forschung. Das Tückische an der Alzheimer-Erkrankung ist, dass das Absterben von Nervenzellen oft Jahre und Jahrzehnte vor dem Auftauchen der ersten Symptome beginnt. Wenn die Diagnose gestellt wird, ist es meistens spät. Wenn also die ersten Gedächtnisstörungen auftreten, sind die Schäden im Gehirn schon weit fortgeschritten. Und einmal verloren gegangene Nervenzellen können kaum wieder ersetzt werden. Die Krankheit ist grausam, sie schreitet langsam, am Beginn kaum merklich, aber unaufhörlich voran. Zwischen den ersten Symptomen und dem Tod vergehen durchschnittlich zwischen 8 und 10 Jahre. Bis dahin müsse es das Ziel sein, die bestmögliche Lebensqualität der Patienten so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.“
Was kann man vorbeugend tun?
„Die Ursache der Erkrankung ist leider nicht final geklärt. Eine Erbkrankheit ist es in den allermeisten Fällen nicht, das weiß man immerhin“, erklärt Wenter. Es gibt zahlreiche Studien, die sich mit dieser Vergesslichkeitskrankheit beschäftigen. Etwa mit den Risikofaktoren. Eine Metanalyse der bedeutendsten Studien durch die Lancet-Commission aus dem Jahre 2020 beispielsweise zeigt, dass man durch einen gesunden Lebensstil und die frühzeitige Behandlung von Gesundheitsproblemen tatsächlich das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, um bis zu 40 Prozent senken bzw. den Verlauf der Erkrankung verlangsamen kann.
Risikofaktoren
Diese wissenschaftliche Kommission hat insgesamt 12 Risikobereiche benannt. Ganz vorne mit dabei: Tabak- und Alkoholkonsum. Raucher haben ein um bis zu 60 Prozent höheres Demenzrisiko als Nichtraucher, ein Zuviel an Alkohol lässt Neuronen sterben und das Gehirn schrumpfen. Positiv: Durch den Verzicht auf Tabak und Alkohol kann man – auch in älteren Jahren – das Risiko senken. Auch der Schlaf, besonders die Schlafqualität, beeinflusst das Alzheimer-Risiko. Bei Menschen, die regelmäßig weniger als 7 Stunden pro Nacht gut schlafen, ist das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, um bis zu 30 Prozent höher als bei Menschen, die mehr als 7 Stunden schlafen. Man nimmt dem Nervensystem die Möglichkeit, sich zu erholen. Menschen, die schwerhörig sind und kein Hörgerät tragen, haben ein 69 Prozent höheres Risiko, an Demenz zu er erkranken. „Diesen Zusammenhang darf man nicht ignorieren“, betont Wenter. Und: Ausreichende Bewegung hält auch das Gehirn fit. „Auch größere oder regelmäßig kleinere Schädel-Hirn-Traumata, kurz SHT genannt, stellen ein erhöhtes Demenzrisiko dar“, betont der Ex-Primar. In den USA darf im Jugendfußball bis zum 16. Lebensjahr deswegen nicht mehr Kopfball gespielt werden und auch in Europa fordern Mediziner das Kopfballverbot, denn Kopfbälle und Schläge auf den Kopf erhöhen das Risiko, an Demenz zu erkranken, erheblich. Deshalb ist das Tragen eines Helmes beim Ski- bzw. Radfahren immens wichtig.
Das Leben hört mit der Diagnose Alzheimer nicht auf
Es ist nie zu spät! Auch Personen, die bereits an Alzheimer leiden, sollten ihren Lebensstil ändern. Die richtige Lebensweise kann auch eine Demenzentwicklung verlangsamen. Eines muss klar sein, betont Christian Wenter: „Das Leben hört mit der Diagnose nicht auf, es können noch viele Jahre mit der Krankheit in verschiedenen Stadien folgen.“