Eine coole Weihnacht
Im 2021 von Waltraud Holzner
Kilian fühlte sich erleichtert. Immer wieder hatte er es verschoben, aber eine Woche vor dem Weihnachtsfest hatte er mit männlichem Mut der Familie erklärt, da er seit kurzem volljährig sei, werde er heuer das Weihnachtsfest nicht in ihrem trauten Kreis verbringen. Ihm grusle es vor schlecht gesungenen Weihnachtsliedern, einem mit kitschigem Tand behangenen Christbaum, dem üppigen Weihnachsschmaus, den fett-süßen Weihnachtsbäckereien und sogar die Krippe mit ihren tönernen Figuren komme ihm spießig und einfältig vor.
Vater und Mutter hatten einander verdutzt angeschaut. Tante Melitta, die gerade einen ihrer häufigen Besuche abstattete, hatte stärker mit dem Köpfchen gewackelt als sonst, was auf ihre innerliche Erregung schließen ließ, und Billy, Kilians jüngere Schwester, hatte schlicht festgestellt: „Du Depp!”
Nun, er hatte es nicht anders erwartet. Sollte die liebe Familie doch in stiller Nacht einsam wachen, er würde den Abend mit gleichgesinnten Freunden und Freundinnen in Tonis Pub verbringen. Tonis Pub war zwar nur eine feuchte, unbenützte Garage der Eltern seines Freundes Anton, aber mit einem Tisch, einigen Stühlen, einem uralten Sofa und vor allem mit vielen Posters war ein artgerechter Treffpunkt für den Freundeskreis entstanden. Der kleine Elektroofen würde wie immer mehr oder weniger für die Katz’ sein, aber bei Hip Hop und heißer Musik würde allen schon warm werden.
Vergnügt pfeifend verlud Kilian am 24. Dezember um acht Uhr abends eine Kiste Bier und eine Großpackung Soletti in sein Auto. Ja, sein Auto! Die vom Schrottplatz gerettete Frucht seiner Ferienjobs. Der Vater hatte zwar erklärt, die Eiger Nordwand frei kletternd zu bezwingen sei ungefährlicher als in diese Kiste zu steigen, aber Kilian hatte entgegnet, in solchen Sprüchen zeige sich doch nur die Arroganz der besitzenden Klasse. Munter verzieh er seinem Wagen drei vergebliche Startversuche und schunkelte dann gemütlich zu Tonis Pub.
Toni wartete schon, mit ihm drei der Freunde und das Mädchen Lena. Auch die anderen Burschen hatten Bier und Soletti-Großpackungen, Lena einen Teller mit Weihnachtsbäckerei mitgebracht. „Muss das sein?”, bemerkte Toni abfällig und verdrehte die Augen. „Wir haben doch ausgemacht, den Abend ohne die ätzende Weihnachtsmerde zu verbringen.”
„Na ja, wegen ein paar Vanillekipferln …” Ein wenig beleidigt stellte Lena den Teller auf den Tisch. „Ihr müsst sie ja nicht essen, ich nehm’ sie gerne wieder mit.”
Mit mindestens fünfzehn Personen hatte Toni, der „Hausherr”, gerechnet. Aber die kleine Gruppe wartete umsonst, es wurden nicht mehr als fünf mit vier Kisten Bier und drei Großpackungen Soletti. Weil ihnen kalt war, drückten sie sich auf dem alten Sofa aneinander und aßen binnen fünf Minuten Lenas Keksteller leer. Allen war sehr trübsinnig zumute, sie fühlten sich von den Freunden verraten und um einen rauschenden Abend betrogen. Nach einer Flasche Bier hatte keiner mehr Durst und sonderbarerweise hatte auch niemand Appetit auf Solettis. Wie oft waren sie beisammen gesessen und hatten gelacht und sich unterhalten, aber heute war nichts zu machen. Um zehn Uhr verkündete ein Jüngling beherzt „Wisst’s was? Ich bin müd, ich geh’!”
„Ich hab auch versprochen, um elf Uhr daheim zu sein,” log Lena. „Aber wie komme ich nach Hause?” Sie war nämlich mit dem Bus angereist und hatte damit gerechnet, mit ihren Freunden nach Hause fahren zu können.
„Mit mir, ich habe ja ein Auto”, bot Kilian galant und ebenfalls fluchtentschlossen seine Hilfe an.
Also löste sich die kleine Gesellschaft sichtlich erleichtert, freundschaftlich und frierend auf.
Das Dorf, in dem Lena wohnte, lag etwa zehn Kilometer von Kilians Wohnort entfernt. Nur ein Katzensprung. Aber nachdem er das Mädchen nach Hause gebracht hatte, spürte Kilian ein großmächtiges Sehnen in sich, ein schmerzhaftes Heimwehgefühl. Oh, wie freute er sich auf die festliche Stube. Die Familie würde Augen machen! „Kilian, bist du doch noch gekommen? Wie schön!”, würde Mutter sagen und alle würden sich freuen.
Ja, seine Familie würde sein unerwartetes Erscheinen wie ein wunderbares Weihnachtsgeschenk betrachten. Kilian, der Familienglücklichmacher! Kilian in Goldpapier mit Schleife! Kilian mit Engelsflügeln und Heiligenschein! Vergnügt stieg er aufs Gaspedal. Warum fuhr die Kiste nicht schneller sondern wurde immer langsamer? Verdammt, jetzt blieb die Büchse stehen. Kilian versuchte immer wieder zu starten, er öffnete die Motorhaube, ging drei Mal um das Auto herum, aber nichts half. Schließlich musste er das leblose Gefährt an den Straßenrand schieben und zu Fuß den Heimweg antreten. Ungefähr vier Kilometer oder fünf hatte er vor sich. Sehr selten fuhren Autos vorbei, aber keines hielt, um ihn mitzunehmen.
Nicht nur die Sehnsucht nach seinen Lieben trieb Kilian an, sondern auch die beißende Kälte. Zuerst die kalte Garage und jetzt dieses open air. Es war eine klare Nacht, die Sterne und ein halber Mond leuchteten auf die kahle, schneelose Landschaft und auf das helle Band der Landstraße. Ob Jesus in solch frostiger Nacht geboren wurde? Nun ja, das ist nicht erwiesen. Ein Geburtsdatum ist ja nicht bekannt. Aber eine klare Nacht muss es gewesen sein, denn der Stern hatte ja über dem Stall gestanden. Und wenn es nicht kalt gewesen wäre, hätten Maria und Josef nicht so dringend eines Unterstandes bedurft. Daheim würde wie jedes Jahr die kleine Tonkrippe stehen. Kilian fühlte sich wetterbedingt mit der heiligen Familie verbunden.