Entschleunigung in schnelllebigerZeit
Im Winter 2023 von Dr. Luis Fuchs
„Kinder, wie die Zeit vergeht!“ Sprechen wir unseren Bekannten die Wünsche für ein gutes neues Jahr aus, wird gerne diese nüchterne Feststellung geäußert. Warum haben wir das Gefühl, die Zeit renne uns davon? Obwohl Smartphones und moderne Transportmittel uns helfen, Zeit zu sparen, fühlen wir uns von stressiger Zeitknappheit eingeengt. Soziologen sehen darin ein modernes Phänomen. Mit der technischen Beschleunigung bei Verkehr, Kommunikation, Produktion und Konsum beschleunigen sich auch die Arbeits- und Lebensverhältnisse.
Angesichts der zunehmenden Beschleunigung sehnen sich die Menschen nach Entschleunigung. Wenn Gasgeben der Trend ist, setzt der Gegentrend auf Bremsen. Auf diesem Kurs bieten sich bereits einschlägige Ratgeber an: „Entschleunigung von Mensch und Hund“ oder „Die 7 Geheimnisse der Schildkröte“.
Auch Künstler haben sich der Entschleunigungskultur verschrieben. Das John Cages Orgel-Projekt ORGAN/ASLSP ist als Kommentar zu „unserer schnelllebigen Zeit“ zu verstehen. Das Orgelstück wird 639 Jahre lang in der ehemaligen Klosterkirche St. Buchardi von Halberstadt mit der Tempovorschrift „as slow as possible“, also „So langsam wie möglich“, aufgeführt. Im Jahr 2001 begann die Aufführung des langsamsten und längsten Musikstückes der Welt; im Jahr 2640 wird es schlussendlich ausklingen. Als ein Kunstwerk im Zeichen der Entschleunigung ist ebenso die Zeitpyramide in der bayrischen Stadt Wemding anzusehen. Geplant ist die Errichtung einer Pyramide aus Stein-Quadern, wobei alle zehn Jahre ein neuer Stein gesetzt wird. Das Projekt startete 1993 zum 1.200-jährigen Gründungstag von Wemding; es ist auf weitere 1.200 Jahre veranschlagt und wird somit voraussichtlich im Jahr 3183 fertig sein. Der Künstler wollte mit dem Werk ein Gefühl dafür vermitteln, was eine Zeitspanne von 1.200 Jahren bedeutet.
Als Beispiel für nicht programmierte Entschleunigung bietet sich der „rasante Stillstand“ auf der staugeplagten Brennerautobahn an. Am Wochenende rund um den Feiertag Mariä Empfängnis mussten die Autofahrer auf der Strecke zwischen Atzwang und Trient mindestens zwei Stunden Fahrzeit zusätzlich einplanen; die A22 wird nicht von ungefähr als größter Parkplatz der Region bezeichnet. Werfen wir einen Blick auf die Zeiten, als Goethe zu seiner berühmten italienischen Reise aufbrach: Der Dichterfürst benötigte für die Strecke von Karlsbad nach Rom fast zwei Monate. Für dieselbe Strecke von 1.200 Kilometern berechnet der Routenplaner ca. zwölf Stunden.