Von der Blume, die klein sein wollte
Im Winter 2023 von Waltraud Holzner
Zur Weihnachtszeit erfreuen uns Blumen, die in geheizten Glashäusern wachsen und von Gärtnern fleißig gepflegt werden. Aber draußen ist alles kahl und wir finden keine frischen Blüten mehr, höchstens ein paar vertrocknete Pflanzenreste auf dürren Stängeln. Eine Blume aber gibt es, die zur Winterszeit ihre Knospen öffnet und zu strahlend weißen Blütenkelchen entfaltet. Ihr kennt sie: Es ist die Christrose.
Dazu möchte ich euch folgende Geschichte erzählen:
Als Gott, der Herr, sein Schöpfungswerk vollbracht hatte und sich Himmel und Erde, Wasser und Land, Berge und Täler, Tiere und Pflanzen ansah, befand er, dass alles gut war. Am Himmel prangten die Sonne, der Mond und die vielen Sterne, auf der Erde rauschte das Meer und Bäche sprudelten von den Bergen in die Täler. Den Tieren, die sich im Wasser, auf dem Land und in den Lüften aufhielten, gab er Farben und Muster in unendlicher Vielfalt. Zum Beispiel dem Zebra ein schwarz-weiß gestreiftes Fell, dem Pfau ein schillerndes Federrad und den Schmetterlingen bunte Flügel. Allen Pflanzen aber gab er ein grünes Kleid. Dem schönsten Stück der Erde gab er den Namen „Paradies“ und hier erschuf er die ersten Menschen. Hier sollten sie glücklich und in Eintracht leben, mit ihm und allem, was er erschaffen hatte.
Auch im Paradies waren vorerst alle Pflanzen und Blumen grün. Nur eine einzige Blume gab es, die war sehr hoch und prächtig und ihre wunderbare Blüte war so groß wie die Krone eines Baumes. In dieser Blüte waren alle Farben des Regenbogens enthalten: Die äußersten Blütenblätter waren grün wie die der anderen Pflanzen, aber nach innen zu waren sie blau, violett, rot, orange und das Innerste der Blüte war strahlend goldgelb wie die Sonne. Die Blume hatte zudem einen unbeschreiblich süßen Duft, der das ganze Paradies mit Wohlgeruch erfüllte.
Als das große Unglück geschah, weil die Menschen machtgierig wurden und sich gegen Gottes Gebot auflehnten, trauerte die ganze Natur und für die Menschen gab es den Garten Eden nicht mehr. Plötzlich fanden sie sich in einer Natur wieder, der nur unter Schweiß und Tränen das tägliche Brot abgerungen werden konnte. Gott in seiner Güte überließ zwar auch außerhalb des Paradieses den Menschen alles, was er geschaffen hatte, aber die Tiere waren scheu und ängstlich geworden, und viele Pflanzen bekamen Stacheln, Gift und Dornen.
Die wunderbare Blume, die im Paradies geblieben war, war sehr niedergeschlagen.
„Herr“, bat sie, „ich habe gesehen, wie gefährlich es ist, groß und mächtig sein zu wollen. Mach mich doch klein, so wie es meine grünen Schwestern sind.“
Dem Herrn gefiel die Demut der Blume und gern erfüllte er ihren Wunsch. Aber schon bald sprach die Blume wieder zu Gott: „Herr, ich weiß, ich verlange viel von dir. Aber ich alleine darf so herrlich duften und nur mich hast du im Gegensatz zu meinen grünen Schwestern mit den wunderbaren Farben des Regenbogens ausgestattet. Könntest du nicht meinen Duft und meine Farben auf alle meine lieben Schwestern verteilen, damit den Menschen da draußen in der Welt noch eine kleine Freude bleibt?“
Gott, der dieser Blume alle Schönheit und Pracht verliehen hatte, weil sie so voll Demut und Güte war, zögerte nicht, den Duft und die Farben der bunten Blüte auf die anderen Blumen zu verteilen. Nun dufteten Rosen und Lilien, die Nelken und der Jasmin und viele andere und die Menschen freuten sich über den Duft und die Farbenpracht der Blumen, über die violetten Veilchen, die roten Mohnblumen und die gelben Löwenzähne.